In der Produktentwicklung und im Underwriting stehen Versicherer heute vor vielen Herausforderungen. Sie müssen innovative Produkte anbieten, bei denen der Kundennutzen im Vordergrund steht und gleichzeitig müssen Prämien kompetitiv bleiben. Dieser Spagat erfordert auf die individuellen Kundenbedürfnisse zugeschnittene innovative Produkte und präzisere Risikoevaluierungsmodelle.
Wie kann „Big Data“ theoretisch helfen, diese Herausforderungen anzugehen? Wenn ein Versicherer es schafft, die richtigen Daten zu sammeln, zusammenzuführen und zu verarbeiten, können aus „Big Data“ ganz neue Einblicke in das Kundenverhalten gewonnen werden. Dies ermöglicht es auf Kundenbedürfnisse zugeschnittene Versicherungsprodukte zu entwickeln. So können mit neuen Analysetools aus bestehenden und im normalen Geschäftsverlauf anfallenden Daten neue Erkenntnisse gezogen werden. Aber auch externe Tools wie Google Trends und Google Consumer Surveys können genutzt werden, um Einblicke in die Interessen und das Onlineverhalten von bestehenden und potenziellen Kunden zu schaffen. Des Weiteren können mit Hilfe von „Big Data“ auch Prämien sehr präzise berechnet werden. Auf „Big Data“ basierte Modelle und Algorithmen ermöglichen nicht nur ein weit effizienteres Pricing durch akkuratere Risikobewertung, es wird nun sogar eine vollautomatisierte Risikobewertung möglich.
Auf Basis einzig jener Daten, welche dem Versicherer zur Verfügung stehen, sind bereits verschiedene Mehrwert stiftende Anwendungen möglich. Ohne großen Aufwand können sogenannte „Fast Quotes“ berechnet werden. Hier landet ein potenzieller Kunde auf einer Eingabemaske und erhält mit Eingabe sehr weniger Informationen sofort eine gute Approximation der tatsächlichen Prämie. Im Kfz-Bereich bieten dies schon sehr viele Versicherer basierend auf dem Kennzeichen an. Oscar, ein US-amerikanisches Krankenversicherungs-Start Up, in welches Alphabet 32 Millionen US Dollar investiert hat, berechnet Fast Quotes auf Basis weniger persönlicher Informationen, welche der Kunde in einem simplen Online-Formular zur Verfügung stellt.
Außerdem ist es durchaus denkbar bei simplen und standardisierten Produkten ‒ z.B. in der Schadensversicherung ‒ den Underwriting-Prozess vollständig zu automatisieren. Bei komplexeren Produkten kann zumindest für einen großen Teil der Kunden eine automatisierte Abwicklung durchgeführt und danach automatisch entschieden werden, welche Kunden zur weitergehenden Prüfung an Mitarbeiter weitergeleitet werden.
Auf Basis von Daten, welche dem Versicherer von externen Quellen zur Verfügung gestellt werden, gibt es ebenfalls eine Vielzahl an Anwendungen zur Hebelung des Potenzials von „Big Data“ im Bereich der Produktentwicklung und Underwriting.
Der britische Versicherer Aviva hat bereits vor einigen Jahren damit begonnen, teure Gesundheits-Screenings durch Vorhersagemodelle, die auf Parametern über die jeweiligen Kunden basieren (wie deren Hobbies, TV-Nutzungsverhalten oder Bonitäts-Score etc.), zu ersetzen. Eine repräsentative Studie mit über 60.000 Aviva-Kunden, die von Deloitte durchgeführt wurde 3, konnte zeigen, dass dieser Ansatz genauso effektiv potenzielle Gesundheitsrisiken vorhersagt wie Blut- und Urintests, dies jedoch viel kosteneffizienter und schneller.
Zusätzlich kann „Big Data“ auch integraler Bestandteil eines Versicherungsprodukts sein, sodass völlig neue Produkte angeboten werden können. Ein Trend geht beispielsweise in Richtung nutzungs- und verhaltensbasierter Produkte, bei welchen Echtzeitdaten ‒ via Technologien wie Telematik ‒ die Prämien oder den Service beeinflussen.
Insbesondere im Bereich Kfz-Versicherung hat das Thema Telematik großes Potenzial. Dazu wird ein Sensor im Fahrzeug eingebaut, welcher Daten an das Versicherungsunternehmen sendet. Während bei ersten Telematik-basierten Policen die Prämie hauptsächlich von der Anzahl an gefahrenen Kilometern abhing, ist heute viel mehr möglich. Es können nun eine Vielzahl an Parametern wie Uhrzeit, Strecke und Verkehrssituation, Geschwindigkeit oder Abstandseinhaltung im Modell berücksichtigt werden. Dies erlaubt Rückmeldung an den Fahrer bzgl. des Fahrverhaltens und/oder eine Anpassung der Prämien an das individuelle Fahr- und Risikoverhalten. Auf diese Weise profitieren sowohl Kunden als auch Versicherer, da Kunden zu risikoärmerem Verhalten incentiviert werden.
Während der Einsatz von Telematik - oder Tracking-Technologien ganz allgemein - in der Kfz-Versicherung offensichtlich scheint, kann sie in beinahe allen Versicherungssparten den Kundenservice und die Versicherungsleistung erhöhen und gleichzeitig Kosten sparen. Oscar ist zwar längst nicht mehr das einzige Versicherungsunternehmen, das diese Möglichkeit nutzt, wird jedoch als Pionier in der Krankenversicherungsbranche betrachtet. Es incentiviert seine Kunden zu einem gesünderen Lifestyle, indem es Bewegung im Alltag ‒ gemessen durch Smartwatches ‒ belohnt. Vitality eine britische Krankenversicherung belohnt nun ebenfalls Bewegung im Alltag - gemessen durch Aktivitäts-Tracker wie Fitbit. Kunden können Rewards-Punkte sammeln, welche sich wiederum in Fitness-Produkte (z. B. Laufschuhe) umwandeln lassen.
Eine weitere konkrete Anwendung von „Big Data“ für ein verhaltensbasiertes Versicherungsprodukt wäre die Nutzung von Echtzeitdaten für Real-Time Underwriting. Durch sogenannte Publication & Substitution Technologie (z. B. Google Pub/Sub) können Kundendaten aus einer App (z.B. von einem Wearable) in Echtzeit an den Versicherer übermittelt und mit entsprechenden Technologien (z.B. Google Dataflow) ebenso direkt ausgewertet werden. Die Echtzeitauswertung der Kundendaten erlaubt es dem Versicherer das Risikoprofil des Kunden zu evaluieren und dem Versicherten ggf. eine zusätzliche Absicherung anzubieten. Wenn z.B. ein Kunde sich in eine riskante Umgebung begibt (z.B. auf eine schwarze Skipiste), würden die Standort-Informationen direkt an den Versicherer übermittelt und dort in Echtzeit ausgewertet. Der Versicherer könnte eine etwaige Versicherungslücke identifizieren und dem Kunden automatisiert eine entsprechende Push-Nachricht zur Deckung dieser Versicherungslücke zusenden. Beide Seiten gewinnen: Der Kunde ist besser abgesichert und der Versicherer kann seine Beiträge steigern.
Weiter geht es zu dem dritten Teil: Big Data in der Versicherungsbranche ‒ Marketing und Sales.