Wer verstehen will, wie sich unser Suchverhalten wandelt, muss genau hinsehen – so wie Lilit Galstyan. Die Online-Marketing-Managerin bei Bonprix beobachtet täglich einen fundamentalen Shift in der Google-Suchleiste: Nutzer*innen tippen immer seltener simple Befehle wie „Kleid rot“. Stattdessen stellen sie kontextbezogene Fragen, etwa: „Was kann ich zur Weihnachtsfeier tragen?“
Das Tückische daran: In diesen natürlichen Sätzen fehlen klassische Signalwörter wie „Kleid“ oder „festliche Mode“ oft komplett. Für das Suchmaschinenmarketing ändern sich damit die Spielregeln: Wer weiter starr auf Keywords bietet, läuft Gefahr, genau dann unsichtbar zu sein, wenn das Kundenbedürfnis am konkretesten ist. Denn wer auf „Abendkleid“ setzt, erscheint bei der Frage nach der Weihnachtsfeier oft nicht.
Für Bonprix war dies eine strategische Hürde. Um in 16 Märkten weiterhin die Sichtbarkeit der Marke zu erhöhen, reichten die Standard-Lösungen nicht mehr aus. Als First Mover wartete der Händler jedoch nicht ab, sondern setzte früh auf eine neue Technologie, um genau die Lücke zwischen komplexer Nutzerintention und starren Keywords zu schließen.
Renaissance der Textanzeige
Der Modeversender nutzte bereits erfolgreich bestehende Funktionen zur Neukundengewinnung in Performance Max und Standard-Shopping-Kampagnen. Doch um zusätzlich skalieren zu können, mussten Wege gefunden werden, um die Reichweite und Leistung der zentralen Suchkampagnen zu erhöhen. Hier erkannte das Unternehmen eine Chance, die viele im E-Commerce übersehen: die Renaissance der Textanzeige.
Lange Zeit schienen die Skalierungspotenziale im Kanal ausgeschöpft. Wie die meisten Modehändler fokussierte sich auch Bonprix primär auf bildlastige Shopping-Kampagnen (PLA – Product Listing Ads). Doch Bilder stoßen an Grenzen: Bei komplexen, beratungsintensiven Fragen bleiben Shopping-Ads oft eine Antwort schuldig – hier kann nur Text die nötige Tiefe liefern.
Diese Antworten für Millionen von Suchvarianten händisch zu erstellen, war jedoch operativ unmöglich. Jedes Nischen-Keyword einzeln einzubuchen, ist für einen Händler, der in 16 Märkten aktiv ist, schlicht nicht skalierbar. Da zudem internationale Teams oft ohne Muttersprachler*innen auskommen müssen, entstand ein Ungleichgewicht: Während die DACH-Region sehr granular aufgestellt war, blieben in anderen Märkten Potenziale ungenutzt.
„Ich glaube nicht, dass Aufgaben wie manuelle Keyword-Recherche in der Tiefe für jedes noch so kleine Nischen-Keyword uns heute noch weiterbringen“, bringt Ana Gladis, Team Lead Performance Marketing bei Bonprix, die Herausforderung auf den Punkt. „Wir müssen unsere Zeit auf Aufgaben setzen, die uns strategisch nach vorne bringen.“
Kontext statt Keywords
Die Wende brachte ein neuer Ansatz: Als Ana Gladis das Angebot erhielt, Googles neue Kampagnenart AI Max in der Betaversion zu testen, zögerte sie nicht. Die Lösung nutzt Google AI, um nicht länger starr auf Keywords zu bieten, sondern die Suchintention hinter einer Eingabe zu verstehen.
Das Herzstück der Technologie ist die dynamische URL-Auswahl („Final URL Expansion“). Statt manuell festzulegen, welche Anzeige auf welche Landingpage führt, crawlt die KI die Bonprix-Website in Echtzeit. Selbst bei vagen Suchanfragen matcht das System diese automatisch mit dem relevantesten Inhalt im Shop.
„AI Max versteht den Kontext“, erklärt Lilit Galstyan. „Wenn im Shop eine neue Kollektion reinkommt und wir die Keywords noch gar nicht gebucht haben, findet die KI die passende Seite trotzdem.“
Für das Team ein entscheidender Vorteil: Es konnte nun auf kurzfristige Trends reagieren, ohne das operative Setup ständig umbauen zu müssen.
Learning: KI braucht Leitplanken
Doch die Einführung war kein Selbstläufer. Ein frühes Learning des Teams war: Die KI braucht klare Leitplanken. „Am Anfang war der Aufwand erst mal hoch, weil URLs von Service-Seiten wie ‚Mein Konto‘, ‚Wunschliste‘ oder dem Impressum aktiv ausgeschlossen werden mussten, damit die KI den Traffic nur auf kommerzielle Seiten lenkt“, erklärt Lilit Galstyan.
Ebenso wichtig war die Pflege des Keyword-Setups. Vor allem die Arbeit mit negativen Keywords erwies sich als entscheidende Lernbasis für das System. Gleichzeitig erfordert die Startphase Geduld – und Budget. „Man muss kurz damit mitgehen, dass es teuer wird und vielleicht auch komische Suchbegriffe reinkommen“, gibt Galstyan zu bedenken. Die Kunst besteht darin, diese Ausreißer frühzeitig zu pausieren, damit die KI schnell lernt, was relevant ist.
Auch beim internationalen Rollout zahlte sich diese Strategie aus. Bonprix skalierte gezielt dort, wo die KI am schnellsten griff – und wurde überrascht. Das ursprüngliche Ziel war schlicht mehr Traffic, doch der wahre Gewinn lag in der Qualität. Indem die KI Nischen bediente, die im klassischen Raster unsichtbar blieben, erreichte der Händler plötzlich besonders wertvolle Neukundinnen und Neukunden.
Inkrementelle Nachfrage statt Kannibalisierung
Auch die Frage, ob AI Max die bestehenden Performance Max-Kampagnen (PMax) kannibalisieren würde, beschäftigte das Team. „Uns war nicht klar, wie stark PMax solche Suchanfragen bereits bedient und wie viel Traffic wir wirklich noch ‚on top‘ bekommen“, sagt Ana Gladis.
Doch einige der Tests gaben Entwarnung: Statt Traffic bloß umzuverteilen, generierte das Tool inkrementelle Nachfrage. Die KI erschloss im „Long Tail“ Nutzerinnen und Nutzer, die von PMax bislang nicht erreicht wurden. Das Potenzial zeigte sich in den Reports: Dort fanden sich plötzlich Suchanfragen mit acht bis zehn Wörtern – hochspezifische Kombinationen, die Bonprix mit klassischen Keywords sonst nicht hätte abgreifen können.
Wie gut das funktioniert, zeigt das Beispiel Umstandsmode. Werdende Mütter suchen oft nicht einfach nach einem Produktnamen, sondern haben hohen Beratungsbedarf und stellen der Suchmaschine lange, komplexe Fragen. Genau hier spielt die KI ihre Stärke aus: Sie liefert die passende Antwort und ermöglicht es Bonprix, diese Kundinnen viel früher in ihrer Customer Journey abzuholen.
Dieser qualitative Gewinn schlägt sich auch in den Kampagnen-KPIs aus Italien nieder:
- Die Neukundenquote (gemessen an der Neukunden-Akquise-Funktion / NCA) stieg in den Testmärkten um 44 Prozent.
- Die Kosten pro Neukundin und Neukunde (CAC - Customer Acquisition Cost) sanken um 22 Prozent.
- Die Conversion-Rate legte um 15,3 Prozent zu.
Für Ana Gladis ist dieser Erfolg kein Zufall, sondern das Ergebnis einer klaren Innovationskultur. „Meine Devise ist: Testing is key“, sagt sie. „Ohne Testen kommt man nicht voran.“ Bonprix versteht sich als First Mover: Man wartet nicht, bis eine Technologie perfekt ist, sondern lernt mit ihr und gestaltet sie im Idealfall mit. Lilit Galstyan ergänzt: „Wenn man früher startet, hat man die Learnings schon gemacht, wenn das Feature für alle eingeführt wird. So können wir das Setup bereits optimiert haben, während andere noch lernen.“
Vom Mikromanagement zur Strategie
Natürlich erfordert der Einsatz von KI auch ein Umdenken im Team. Die Illusion, jede Customer Journey manuell kontrollieren zu können, schwindet. „Momentan versuchen wir noch sehr stark, selbst zu steuern“, gibt Gladis zu. Doch ihre Prognose für die Zukunft ist klar: „Das wird künftig anders laufen und mehr getrieben durch die Kund*innen.“
Wer hier Schritt halten will, muss sich vom Mikromanagement verabschieden und zum strategischen Orchestrator werden. „Nur weil man KI nutzt, hat man noch keinen Automatismus für Erfolg“, warnt sie. „Man braucht die richtigen Leute, die sich Strategien überlegen, wie man diese Tools gezielt einsetzt.“
Bei den Experimenten ging es Bonprix um weit mehr als kurzfristige Performance-Gewinne. Sie waren auch das Trainingslager für die Zukunft der Suche – etwa mit Features wie Übersicht mit KI oder dem KI-Modus. Denn wer erst anfängt zu lernen, wenn die Lösungen breit ausgerollt werden, hat den Anschluss vielleicht schon verpasst.
Bonprix sicherte sich durch das frühe Training der KI bereits heute die Wettbewerbsfähigkeit für die Suchlandschaft von morgen. In einem Markt, der keine Pause kennt, ist dieser Zeitvorsprung oft der entscheidende Wettbewerbsvorteil.